...er die Mönche zu uns Deutschen, im Neunzehnten Jahrhundert aber mauserte sich diese zur Geschichtsforschung. Selbige Untersucht die Geschichte anhand der alten Urkunden, Überreste und Aufzeichnungen. Leopold von Ranke begründete sie und er fand viele Nachfolger. Unter anderem unseren Johannes Scherr, der auch als Dichter am Werke war. Im schwäbischen Dörfchen Rechberg erblickte er 1817 als Sohn eines Lehrers das Locht der Welt. Er studierte die deutsche Sprachlehre und die Geschichte an der Tübinger Hochschule und arbeitete anschließend als Lehrer. In den Jahren 1848 und 1849 geriet er in die liberalen Wirren und mußte aus dem Herzogtum Württemberg flüchten. In der Schweiz fand er eine neue Bleibe und erhielt 1860 einen Lehrstuhl für Geschichte an der Hochschule von Zürich. Sein häusliches Glück fand er 1845 mit der Dichterin Maria Kübler, die ihm drei Kinder schenkte. Zu lesen gibt es von unserem Scherr die Geschichtswerke „Deutsche Kultur- und Sittengeschichte“, „Blücher. Seine Zeit und sein Leben“, „Geschichte der Deutschen Frauen“, „Schiller und seine Zeit“, „Germania. Zwei Jahrtausende deutschen Lebens“, „Allgemeine Geschichte der Literatur von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart“, „Geschichte der Religion“, „Größenwahn“ und „Gestalten und Geschichten“. Dazu brachte er unser Nibelungenlied in Erzählform und sammelte die Sagen aus dem Schwabenland. Gedichtet hat er die Erzählungen „Die Pilger der Wildnis“, „Von Achtundvierzig bis Einundfünfzig. Eine Komödie der Weltgeschichte“, „Die Tochter der Luft“, „Michel“, „Das Trauerspiel in Mexiko“, „Menschliche Tragikomödie“, „Die Nihilisten“, „Rosi Zurflüh“, „Der Student von Ulm“, „Nemesis“, „Der Wildschütz“ oder „Werther-Graubart“ - zumindest die Geschichtswerke von unserem Scherr sollten in eurer heimischen Panzerbücherei nicht fehlen. Ludwig van Beethovens Neunte Symphonie lasse ich zu Ehren von unserem Scherr erklingen: https://www.youtube.com/watch?v=_AI9kp02eq0 Die Einleitung von Scherrs „Deutschen Kultur- und Sittengeschichte“ lese ich euch vor und hoffe euch damit zum lesen des ganzen Buches begeistern zu können: https://archive.org/details/deutschekulturu00schegoog „Da ich die Geschichte der Kultur und Sitte meines Landes zu erzählen anhebe, bemerke ich zuvörderst, daß meine Untersuchung und Darstellung von den dermaligen staatlichen Grenzen desselben nicht beschränkt werden darf. Die Kulturgeschichte einer Nation ist in keiner Weise von den willkürlichen Bestimmungen diplomatischer Kongresse abhängig. Ich habe demnach nur die natürlichen und sprachlichen Marken zu beachten und verstehe unter Deutschland das ganze in Mitteleuropa gelagerte Ländergebiet, welches deutsch ist in Denkart, Sprache, Bildung und Brauch. Das Land zwischen dem Deutschen, dem Baltischen und dem Adriatischen Meere, zwischen den Karpathen und den Vogesen, zwischen den polnischen Wäldern und den holländischen Marschen, zwischen den Berner Alpen und den jütischen Heiden – dieses Deutschland ist der Schauplatz meiner Erzählung. Fassen wir also zunächst das Land ins Auge, welches den Gegenstand unserer kultur- und sittengeschichtlichen Berichterstattung ausmacht. Denn kein Wissender wird bestreiten wollen, daß die natürliche Beschaffenheit des Landes die Zustände, die Sitten und den Charakter der Leute urmächtig bedingt und bestimmt. Die Bodengestaltung ist eine der bedeutendsten und unveränderlichsten Ursachen der geschichtlichen Entwicklung einer Nation, und mit Fug durfte ein geologischer Forscher sagen, daß eine Menge von Wurzeln des menschlichen und staatlichen Lebens tief in das Innere der Erde hinabreiche. Nun aber hat die Natur unser Land weder allzu üppig noch allzu kärglich bedacht. Wenn sie uns mit den melancholischen Nebeln, dem Schnee und Frost eines langen Winters nicht verschonte, so gab sie uns dagegen auch einen blütenreichen Frühling, früchtereifende Sommerwärme und eine klare, milde Herbstsonne. Der Übergang der kalten Jahreszeit in die warme und dieser in jene ist in der Regel kein schroffer, sondern ein stufenweises Vor- und Rückschreiten. Einige ganz unfruchtbare Striche abgerechnet, leistet der Boden für die Mühewaltung seiner Bebauer mehr oder minder dankbaren Ersatz. Auf unübersehbaren Flächen wogen goldene Ährenfelder im Winde, in fetten Niederungen gedeihen Futterkräuter in Fülle, Wälder von Obstbäumen wechseln mit wohlgepflegten Gemüsegärten, und an den sonnigen Halden klimmt die Rebe empor, welche besonders im Rhein-, Mosel-, Main- und Neckargau edle Ausbeute gewährt. Auch der unterirdische Reichtum unseres Bodens ist nicht klein. Lager von Torf und von Steinkohlen kommen einem der wichtigsten Bedürfnisse des Menschen entgegen, Gesundbrunnen treiben ihre gesegneten Strahlen aus der Tiefe hervor, und reiche Erzgänge öffnen ihre Metallschätze dem Bergmann. Noch ist der Edelhirsch und das schlanke Reh in unsern Forsten nicht ausgestorben, wenn auch Ur, Bär, Elen und Wolf der Kultur weichen mußten. Zahllose Herden füllen unsere Weiden, und in Flüssen und Seen wimmelt der Fische schuppige Brut. Und nicht nur das Notwendige gewährt uns die Natur; sie hat auch, dem regen Naturgefühl unseres Volkes entsprechend, für Schönheit und Schmuck gesorgt. Deutschland mit seinen Bergen und Wäldern, mit seinen Tälern und Strömen ist ein schönes Stück Erde. Die mannigfaltigen Formen seiner Oberfläche verleihen ihm jene landschaftliche Abwechslung, die für das Auge so wohltuend ist. Von den höchsten Alpengipfeln im Süden an stuft sich das Land durch Hochebenen und Bergketten mittlerer und niederer Art mählich bis zu den Marschen der nördlichen Küstengegenden ab. Wenn die Schweiz, Tirol und Steiermark die großartige Schönheit der Hochalpennatur besitzen, so erfreuen sich die Nord- und Ostseeländer der Poesie des Meeres. Schwaben ist seines Schwarzwaldes schattiger Waldheimeligkeit, der Rheingau seiner romantischen Herrlichkeit, Thüringen des idyllischen Friedens seiner Auen froh. Die Heiden Westfalens stimmen den Wanderer zu sinnender Betrachtung, die Bergquellen des Harzes plaudern ihm uralte Sagen vor, auf Helgoland und Rügen weitet ihm Seehauch die Brust, und die gewaltige Donau führt ihn auf ihrem Laufe, entlang das fruchtbare Bayern und ins fröhliche Österreich hinein, durch ein farbensattes Gemälde voll Reiz und Wechsel der Szenen. Was immer die Natur geboten, wurde von den Bewohnern Deutschlands emsig und dankbar benutzt. In der Landwirtschaft steht kein Land dem unsrigen voran, und nur wenige stehen mit ihm auf gleicher Stufe. Unserer Bauerschaft unermüdlichem Fleiß und entsagungsvoller Wirtlichkeit ist die Umwandlung der germanischen Urwaldwildnis zu einem der bevölkertsten und ertragfähigsten Länder der Erde hauptsächlich zuzuschreiben. Sobald der Vorschritt der Geschichte die Begründung und Entwicklung des Bürgertums ermöglichte, sehen wir es mit Kraft und Strebsamkeit die Wege der Industrie wandeln und mit preiswürdiger Kühnheit die Bahnen des Handels sich eröffnen. Dieses Bürgertums Ruhm und Stolz sind die deutschen Städte, wie sie sich inmitten einer zahllosen Menge wohnlicher Dörfer zu Tausenden erheben, geschmückt mit Domen, Hallen und Palästen, angefüllt mit allem, was dem Leben höheren Reiz verleiht und feinere Genüsse sichert. Nicht allein die Natur, sondern auch die Kultur hat Deutschland zu einem schönen Lande gemacht, und die Schöpfungen der letzteren sind wohl geeignet, auch schwarzsichtige Zweifler mit Zukunftsvertrauen zu erfüllen. Unser Land besitzt ein Klima, welches geeignet ist, die Bevölkerung vor des Nordens Erstarrung wie vor des Südens Erschlaffung gleichermaßen zu bewahren. Auch zeigt in der Tat die Gemütsart unseres Volkes das Fernsein der Extreme und im ganzen eine glückliche Mischung von skandinavischer Kraft und romanischer Regsamkeit auf. Um aber gerecht zu sein, darf hierbei nicht verschwiegen werden, daß die deutsche Art vielfach einerseits in norddeutsch zähes Phlegma, andererseits in süddeutsch unbeholfene Viereckigkeit ausartet. Diese Eigenheiten können den an unserem Volke nur allzuoft wahrnehmbaren Mangel an Elastizität und Initiative zwar erklären, aber nicht entschuldigen. Brütendes Phlegma und schneckenhäusliche Philisterei sind rechte Todsünden deutscher Nation geworden, und wie häufig und verderblich die wesentlich deutschen Tugenden der Beharrung und der Treue in die Laster des Schlendrians und der Knechtseligkeit umschlugen, beweist nur allzusehr der ganze Verlauf unserer Geschichte. In nicht minder niederschlagender Weise läßt er uns erkennen, daß der deutsche Gedanke in hagestolzer Bequemlichkeit leider allzu häufig versäumt habe, mit der gesunden Volkskraft zur Ehe zu schreiten, um seine schönste Tochter, die Tat, zu zeugen. Berauscht von dem Zauber der Idee, haben wir zu oft und zu gerne vergessen, was wir der Wirklichkeit schulden, und diese hat dann ihre Vernachlässigung bitter genug an uns gerächt. Uns ist selten gelungen, Theorie und Praxis in harmonische Wechselwirkung zu setzen, und darum haben andere von den Blüten unseres Geistes so häufig die Früchte geerntet. Aber was wir aus allen unseren trüben Erfahrungen, aus allen unseren Mißgeschicken, Demütigungen und Schmerzen uns gerettet, ist der Glaube an das Ideal. Dieser Glaube ist der Grundton unserer Geschichte...“.